Plastische Dehnungen bei Schweißnähten: wieviel ist erlaubt?
Einleitung
Schweißnähte sind kritische Komponenten im Stahlbau, deren Bemessung oft eine Herausforderung darstellt. Traditionelle Finite-Elemente-Methoden (FEM) stoßen hierbei schnell an ihre Grenzen, da sie die spezifischen Anforderungen von Schweißverbindungen nicht ausreichend berücksichtigen können. Mit der Entwicklung der Component-Based Finite Element Method (CBFEM), die in IDEA StatiCa integriert ist, wird dieser Herausforderung begegnet, indem eine präzise Modellierung von Schweißnähten ermöglicht wird.
Technische Herausforderungen
In numerischen Berechnungen wird der Widerstand von Schweißnähten durch Spannungsspitzen beeinflusst, die an kritischen Punkten wie den Enden von Plattenkanten und in Ecken auftreten können. In traditionellen Handrechnungen werden diese Spannungsspitzen vernachlässigt. IDEA StatiCa hat speziell für die Modellierung von Schweißnähten ein elastoplastisches Schalenelement entwickelt, welches durch plastische Umverteilung Spannungssingularitäten vermeidet.
In der Fachwelt wird derzeit diskutiert, wie groß die plastischen Dehnungen in Schweißnähten sein dürfen. In DIN EN 1993-1-8 [1] findet man keine Angaben bezüglich des elastisch-plastischen Verhaltens von Schweißnähten, im Sinne eines Werkstoffgesetzes. Es ist bekannt, dass sich Schweißnähte bei paralleler Beanspruchung i.d.R. duktil verhalten, die Beanspruchungen senkrecht zur Nahtrichtung werden begrenzt. Damit soll der Sprödbruch von Nähten vermieden werden. In DIN EN 1993-1-5, Anhang C wird für plattenförmigen Bauteile allgemein ein Maximalwert der Hauptmembrandehnung von 5% empfohlen [2]. Der Koordinierungsausschuss der Prüfämter und Prüfingenieure für Standsicherheit in Bayern empfiehlt für Nachweise im Grenzzustand der Tragfähigkeit nur geringe Dehnungen in Schweißnähten von maximal 0,2% zuzulassen [3]. Der Stahlbau-Kalender 2023 berichtet über neue Erkenntnisse aus dem Entwurf von prEN 1993-1-8:2022 und erlaubt, dass sich lokale Spannungsspitzen in der Schweißnaht ausplastizieren [4]. Das in IDEA StatiCa verwendete elastoplastische Schalenelement für Schweißnähte verhält sich in diesem Sinne.
Angesichts der Diskussionen über zulässige plastische Dehnungen in Schweißnähten haben wir die realen Belastungsszenarien von Schweißverbindungen untersucht, wie sie im Ringbuch „Typisierte Anschlüsse im Stahlhochbau“ dokumentiert sind [5]. Diese Anschlüsse entsprechen der Norm DIN EN 1993-1-8 und sind typengeprüft.
Auswertung der Ergebnisse
Wir beginnen mit einem momententragfähigen Trägerstoß, bestehend aus IPEa 200 Profilen, verschraubt mit 20 mm dicken überstehenden Stirnplatten in S 235. Die Schweißnähte sind an den Flanschen 5 mm und am Steg 4 dick. Gemäß Ringbuch beträgt die Momententragfähigkeit 41,5 kNm. Die Analyse in IDEA StatiCa ergibt mit 42,0 kNm eine annähernd gleiche Momententragfähigkeit.
Es zeigen sich weitere interessante Ergebnisse: Die Schweißnahtenden weisen unter der Grenzmomentbeanspruchung aus dem Ringbuch eine deutliche Plastizierung auf.
Die detaillierten Schweißnaht-Ergebnisse zeigen, dass die Kehlnaht am Oberflansch entlang ihrer gesamten Länge durch senkrecht zur Schweißnahtachse wirkende Spannungen belastet wird, mit zusätzlichen Spannungen parallel zur Schweißnahtachse an den Enden, was zu einer maximalen Spannungsausnutzung von 98,5% führt. Die beobachtete Plastizierung beträgt hierbei 1,3%.
Als nächstes Beispiel betrachten wir einen momententragfähigen Träger-Stützenanschluss mit einem HEB 400 Träger und einer 45 mm dicken bündigen Stirnplatte, verschraubt an eine Schweißprofilstütze mit großen Blechdicken und Steifen. Die Doppel-Kehlnähte an den Trägerflanschen sind 12 mm und am Trägersteg 5 mm dick. Als Momententragfähigkeit bei Ausführung in S 235 wird im Ringbuch 417,5 kNm angegeben. Die Analyse in IDEA StatiCa ergibt mit 419,6 kNm ebenfalls eine annähernd gleiche Momententragfähigkeit.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Kehlnaht am Trägersteg unter Grenzmomentbedingungen aus dem Ringbuch nahezu entlang der gesamten Länge plastiziert, wobei die Dehnungen unter reiner Momentenbelastung unter der 5%-Grenze bleiben. Bei zusätzlicher Grenzquerkraftbeanspruchung wurde allerdings eine Dehnung von mehr als 5% festgestellt, weswegen auf die Betrachtung der kombinierten Belastung aus Moment und Querkraft verzichtet wurde.
Der Nachweis gelingt mit einer max. Spannungsausnutzung von 99,9% und die beobachtete Plastizierung liegt bei 4,8%.
Diskussion
Die vergleichenden Analysen bestätigen eine hohe Übereinstimmung des berechneten Grenzmoments zwischen IDEA StatiCa und den im Ringbuch dokumentierten Werten, was die Zuverlässigkeit der CBFEM-Methode unterstreicht. Die Überprüfung der Beispiele aus dem Ringbuch zeigt jedoch auch, dass bei hochbeanspruchten Anschlüssen Plastizierungen in Schweißnähten fast unvermeidlich sind. Diese Beobachtung wirft eine wichtige Frage auf: Wenn lokale Plastizierungen in Schweißnähten bei traditionellen Handrechnungen nicht berücksichtigt werden, warum sollte dies dann in einer Finite-Elemente-Analyse ein zentraler Untersuchungspunkt sein?
Empfehlung für die Praxis
Als Empfehlung für das Design von Schweißnähten beziehen wir uns auf den finalen Entwurf der FprEN 1993-1-8:2023 [6], der im Vergleich zur aktuellen Fassung präzisere Aussagen trifft. Weiterführende Kommentare hierzu finden sich im Stahlbau-Kalender 2023. Bei der Berechnung von Schweißnahtbeanspruchungen unter statischer Last kann eine gewisse Duktilität der Naht angenommen werden. Dadurch können lokale Spannungsspitzen ausplastizieren, was zu einer gleichmäßigeren Beanspruchung der Schweißnaht führt. Alle traditionellen Bemessungsansätze für Kehlnähte basieren auf diesem Effekt. Jedoch kann eine gezielte plastische Verformung zur Sicherstellung der notwendigen Duktilität im Gesamttragverhalten eines Anschlusses oder der Tragstruktur nur durch das Plastizieren oder Fließen der mit der Schweißnaht verbundenen Bauteile erreicht werden. Deshalb ist es laut Abschnitt 6.9 (4) erforderlich, eine Überbeanspruchung der Schweißnähte, die zu einem Bruch führen könnte, zu verhindern. Dies wird durch eine gezielte Überdimensionierung erreicht, die ein Fließen in den angrenzenden Bauteilen erzwingt [4].
Diese Konstruktionsregel ist in IDEA StatiCa Version 24 implementiert. Ein Algorithmus kontrolliert das Duktilitätsniveau aller Schweißnähte eines Anschlusses und führt notwendige Anpassungen durch. So gelingt eine normkonforme Auslegung von geschweißten Verbindungen mit nur einem Klick! Mehr Infos über diese Funktion finden Sie in unserem Support Center Artikel Automatische Größenbestimmung der Schweißnaht nach Duktilität.
Ausblick
Im Laufe der Geschichte hat das Bauingenieurwesen immer wieder gezeigt, dass technische Neuerungen in Normen und Regelwerken verankert werden. Diese Evolution trägt dazu bei, den Stand der Technik kontinuierlich zu verbessern. Dabei ist es notwendig, dass neue Lösungen wie die in IDEA StatiCa angewandte CBFEM-Methode umfassend validiert und verifiziert werden. Dies gewährleistet, dass Tragwerksplaner sich auf die Wirtschaftlichkeit und Zuverlässigkeit der Software verlassen können. Mehr über die Verifizierung und Validierung der Schweißnahtmodelle in IDEA StatiCa kann im Artikel zur Validierung und Verifizierung des CBFEM Schweißnahtmodells nachgelesen werden.
Literatur
[1] Deutsches Institut für Normung. (2010). DIN EN 1993-1-8: Eurocode 3: Bemessung und Konstruktion von Stahlbauten - Teil 1-8: Bemessung von Anschlüssen. Beuth Verlag.
[2] Deutsches Institut für Normung. (2010). DIN EN 1993-1-5: Eurocode 3: Bemessung und Konstruktion von Stahlbauten - Teil 1-5: Plattenförmige Bauteile. Beuth Verlag.
[3] Koordinierungsausschuss der Prüfämter und Prüfingenieure für Standsicherheit in Bayern. (2023). Technische Mitteilung D07: FE-Berechnung von Knotenpunkten im Stahlbau bei vorwiegend ruhenden Lasten.
[4] Ummenhofer, T.; Fleischer, O.; Kopic, D.; Moze, P. (2023). Neue Erkenntnisse aus dem Entwurf von EN 1993-1-8. In: Stahlbau-Kalender 2023, S. 391-472. Ernst & Sohn.
[5] Weynand, K.; Oerder, R. (2013). Typisierte Anschlüsse im Stahlhochbau nach DIN EN 1993-1-8. Düsseldorf: Stahlbau Verlags- und Service GmbH.
[6] CEN (European Committee for Standardization). (2023). FprEN 1993-1-8:2023, Eurocode 3: Design of steel structures - Part 1-8: Design of joints.
Autor: Helmut Wrede